Auf der Schulter von Giganten im Nebelmeer – wird Wissenschaft weniger innovativ?

Es ist eine Binsenweisheit, dass Wissenschaftler*innen weltweit immer mehr publizieren. Es fällt daher zunehmend schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen – wirklich wichtige Publikationen, die ein Thema essentiell voranbringen, von denen zu unterscheiden, die nur dazu dienen, das Literaturverzeichnis im Lebenslauf zu verlängern. Oft wird in diesem Kontext die Sorge geäußert, dass die zunehmende Fülle an wissenschaftlichen Publikationen dazu führt, dass zunehmend weniger innovative Publikationen produziert werden und der wissenschaftliche Fortschritt nur noch in Trippelschritten voranschreitet.

Eine aktuelle Arbeit in Nature [1] versucht nun zu klären, ob früher wirklich alles besser war, ob der wissenschaftliche Output in historischen Zeiten innovativer war. Dazu analysiert das Team um Michael Park von der University of Minnesota einen Datensatz von knapp 25 Millionen Publikationen aus dem Web of Science, die im Zeitraum zwischen 1945 und 2010 veröffentlicht wurden. Zentrales Instrument für diese Analyse ist eine Metrik, mit der gemessen werden soll, wie disruptiv eine Publikation ist. Dazu wird für eine Publikation betrachtet, welche Referenzen sie hat und von welchen Veröffentlichungen sie zitiert wird. Die Autor*innen bezeichnen ein Paper in dem Fall als besonders disruptiv, wenn die (Menge der) Referenzen der zitierenden Paper kaum ähnlich sind zu (der Menge) der Referenzen des betrachteten Papers. Dies wird dahingehend interpretiert, dass die neuere Publikation ältere Beiträge weniger relevant für den wissenschaftlichen Fortschritt erscheinen lässt, so dass diese von nachfolgenden Arbeiten seltener gleichzeitig zitiert werden. Die Autor*innen nennen die Entdeckung der Helixstruktur der DNA durch Watson & Crick als ein herausragendes Beispiel für eine solche Arbeit. Werden umgekehrt die betreffende Arbeit und ältere Publikationen häufig gleichzeitig zitiert, so wird in ersterer das Wissen aus älteren Beiträgen lediglich konsolidiert. Mit anderen Worten, die dort geäußerten Ideen werden von der zitierenden wissenschaftlichen Community als nicht so disruptiv angesehen. Auf diese Weise kann ein Index berechnet werden, der die Disruptivität einer Publikation oder auch eines Patentes misst.

Park, Leahey & Funk stellten fest, dass die mittlerer Disruptivität von Publikationen und Patenten in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hat. Dies gilt für alle Bereiche von Wissenschaft und Technik. Mittels verschiedener statistischer Methoden weisen die Autor*innen nach, dass diese Abnahme nicht mit einer geänderten Zitations- und Publikationspraxis zusammenhängt. Sie können auch nachweisen, dass dieser Trend auch für Nobelpreisträger*innen gilt, deren Publikationen im Schnitt im Laufe der Zeit weniger innovativ werden.

Bemerkenswert ist allerdings, dass die absolute Anzahl an Publikationen, die besonders innovativ oder disruptiv sind, im Laufe der Zeit relativ konstant bleibt. Weil aber gleichzeitig immer mehr publiziert wird, nimmt der relative Anteil eben ab. Dieser Umstand wird von den Autor*innen auch als zentrale Ursache für die Abnahme der Disruptivität angesehen, da heutige Wissenschaftler*innen gleichsam immer mehr über einen immer engeren Bereich der Wissenschaft wissen müssen, um an den Rand des verfügbaren Wissens zu gelangen und dort neues Wissen generieren zu können. Dies stellt auch für die Technologiefrühaufklärung eine Herausforderung dar. Schließlich hat das Fraunhofer INT den Anspruch, einen umfassenden Überblick über alle Bereiche von Naturwissenschaft und Technik zu generieren.

Man darf nun natürlich gespannt sein, wie disruptiv die Arbeit von Park und seinen Kolleg*innen wahrgenommen werden wird. Das dort behandelte Konzepte im Hinblick auf die Messung der Disruptivität oder Neuheit eines Papers bestimmt jedenfalls schon seit einiger Zeit den wissenschaftlichen Diskurs im Kontext von Science of Science. Davon unberührt bleibt aber die persönliche Einschätzung, dass es sich hier um eine interessante und wichtige Publikation handelt. Sie demonstriert vor allem, welche Möglichkeiten datengestützte Methoden bieten, um das Systems Wissenschaft besser zu verstehen. Dieses Verständnis bietet dann auch neue Möglichkeiten für die Technologienfrühaufklärung. Bleiben Sie also neugierig und daten-getrieben.

 

[1]  Park, Michael ; Leahey, Erin ; Funk, Russell J.: Papers and patents are becoming less disruptive over time. In: Nature 613 (2023), Nr. 7942, S. 138–144, DOI 10.1038/s41586-022-05543-x