Die Mär vom einsamen Wissenschaftler

Dieser Beitrag war schon seit längerer Zeit geplant. Dass er durch die aktuelle Situation, in der sich auch viele Mitarbeiter*innen der Fraunhofer-Gesellschaft im Home Office befinden eine gewisse Aktualität erlangt, war so nicht abzusehen. Es soll in diesem Beitrag um die Mär vom einsamen Wissenschaftler gehen, der allein in seiner stillen Kemenate sitzt, sich mit der Welt, dem Universum und dem ganzen Rest auseinander setzt und seine genialen Erkenntnisse schließlich den Kollegen und der staunenden Öffentlichkeit vorstellt. Ein geradezu prototypisches Beispiel hierfür ist Isaac Newton. Von diesem wird berichtet, dass er sich wegen der großen Pestepidemie 1665/66 für zwei Jahr in Quarantäne auf dem Land befand und während dieser Zeit unter anderem die Grundlagen für seine Theorie der Gravitation legte.

Mit Hilfe des am Fraunhofer INT entwickelten KATI-Systems wollen wir prüfen, was an dieser Vorstellung dran ist. Mit Hilfe dieses Systems können wir nicht nur nach einzelnen Begriffen innerhalb der Datenbank suchen, wie man es klassischerweise tut. Vielmehr können wir auch in Zahlenfeldern, wie der Anzahl der Zitationen oder der Autor*innen suchen. Daher sind die hier vorgestellten Analysen sehr leicht zu erstellen.

Betrachtet man zunächst die absolute Anzahl der Publikationen, die ein*e einzelne*r Autor*in verfasst hat, sogenannte Single Author Papers, so erkennt man, dass diese zunächst bis etwa 1984 anstieg und anschließend leicht um den Mittelwert von ca. 250.000 Publikationen pro Jahr schwankt. Da aber gleichzeitig die Gesamtzahl der Publikationen angestiegen ist, hat sich der Anteil der Single Author Paper kontinuierlich reduziert und beträgt mittlerweile nur noch knapp 10%.

Parallel dazu beobachtet man ein weiteres Phänomen, welches das andere Ende der Skala betrifft, nämlich Publikationen mit sehr, sehr vielen Autor*innen. Dieses wird als Hyperauthorship bezeichnet. Nicht selten finden sich nun Publikationen mit mehr als 100 oder sogar mehr als 1000 Autor*innen. Insgesamt gibt es 5 Publikationen mit mehr als 5000 Autor*innen in der KATI-Datenbank. Davon stammen 4 aus dem Bereich der Elementarteilchenphysik und sind am CERN entstanden. Die Arbeit mit den bislang meisten Autor*innen, nämlich 5576, stammt jedoch aus der Medizin. Es handelt sich um eine internationale Studie über die Risikofaktoren von Herzkreislauferkrankungen.

Die folgende Abbildung zeigt, dass es immer mehr Artikel gibt, die von vielen (100 bis 999) oder sogar sehr vielen Autor*innen (mehr als 1000) verfasst wurden. Die Vorreiterrollen nehmen da typischerweise Wissenschaftsbereiche ein, in denen Großforschungsanlagen zum Einsatz kommen, also die Kern- und Elementarteilchenphysik aber auch die Astrophysik. Erst in den letzten Jahren gibt es hier zunehmend auch Arbeiten aus dem Bereich der Lebenswissenschaften. 

#Diese Entwicklung ist durchaus kritisch zu sehen, da bei Publikationen mit mehr als 100 oder gar 1000 Autor*innen kaum davon auszugehen ist, dass jede*r dieser Autor*innen aktiv an der Erstellung des Manuskripts beteiligt war. Auf der anderen Seite ist es für die Forschung an modernen Großforschungsanlagen wie dem LHC am CERN gar nicht mehr vorstellbar, ohne dass viele Menschen zusammenarbeiten und ihren Teil zum Gelingen beitragen. Der Übergang zu dieser Art von Big Science wurde schon viel früher eingeleitet. Und so könnte die mittlere Anzahl der Autor*innen durchaus auch ein nützliches Kriterium für die Einordnung von wissenschaftlichen Themen – auch für die Technologiefrühaufklärung – sein, nämlich inwieweit sie diesem Bereich der Big Science zuzuordnen sind.

Ob sich die aktuellen Maßnahmen des Social Distancing auch auf die Publikationslandschaft auswirken, wird sich, wenn überhaupt erst in einigen Monaten feststellen lassen. Im Gegensatz zu Newtons Zeiten stehen uns heutzutage viele digitale Formate für den wissenschaftlichen Diskurs zur Verfügung, so dass der Effekt nur sehr gering sein dürfte.