Der Krieg in der Ukraine, der seit Februar 2022 die Welt in Atem hält, beeinflusst das Leben vieler Menschen in negativer Art und Weise. Welche Auswirkungen die Invasion auf das Wissenschaftssystem der Ukraine haben wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Auf Grund des Peer-Review Prozesses, welcher den Kern des wissenschaftlichen Publikationsprozesses darstellt, ist das System relativ träge und reagiert mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auf externe Ereignisse wie Kriege oder andere Katastrophen. Daher wollen wir in diesem Beitrag einen Blick darauf werfen, wie sich die Publikationslandschaft der Ukraine in den ersten 21 Jahren des 21ten Jahrhunderts darstellt. Dazu benutzen wir das am Fraunhofer INT entwickelte KATI-System. Die Datenbasis bilden die mehr als 120 Millionen Publikationsdaten der Dimensions-Datenbank unseres Kooperationspartners Digital Science.
Zunächst betrachten wir die Publikationsdynamik, also die Anzahl der Publikationen, die pro Jahr erschienen sind und bei denen mindestens einer der Autor*innen in der Ukraine forscht. Man erkennt, dass die Zahlen relativ kontinuierlich wachsen und sich dieses Wachstum in den letzten Jahren auch noch beschleunigt hat. Nahm der Output der Ukraine zwischen 2000 und 2011 im Schnitt pro Jahr um knapp 5% zu, waren es zwischen 2012 und 2020 etwas mehr als 15%. Ferner können wir festhalten, dass die Annexion der Krim keinen messbaren Einfluss auf den wissenschaftlichen Output der Ukraine hat. Daher wollen wir im nächsten Schritt fragen, ob sich das Kooperationsverhalten ukrainischer Wissenschaftler*innen vielleicht geändert hat. Dazu betrachten wir die Anzahl der Publikationen, die in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen aus der europäischen Union, den USA, China und Russland entstanden sind.
Aus der in Abbildung 2 dargestellten Analyse ist zu erkennen, dass die Europäische Union der wichtigste Kooperationspartner für die Ukraine ist. Es bestehen aber immer noch enge Verbindungen zu Russland, knapp gefolgt von den USA. Bemerkenswert ist auch, dass mehr als 68% der Publikationen ohne die Beteiligung internationaler Partner*innen entstanden. Zum Vergleich, in Deutschland sind dies etwa 58%. Das legt die Vermutung nahe, dass sich ukrainische Wissenschaftler*innen zunehmend in Richtung EU orientieren, um wissenschaftliche Kooperationen zu etablieren. Um diese Vermutung zu bestätigen, haben wir als nächstes die Dynamik analysiert, die hinter den Daten in Abbildung 2 steht. Das Ergebnis überrascht!
Zunächst ist zu erkennen, dass der Anteil der Publikationen, die in Kooperationen zwischen Wissenschaftseinrichtungen aus der Ukraine und der EU entstanden, von knapp 15% im Jahr 2000 auf fast 25% im Jahr 2013 angestiegen ist. Anschließend hat dieser Anteil aber wieder abgenommen und erreichte 2020 mit etwas weniger als 14% einen Wert, der niedriger ist, als am Anfang des Beobachtungszeitraums. Da die Daten für 2021 noch nicht vollständig sind, betrachten wir sie hier nicht weiter. Eine sehr ähnliche Entwicklung lässt sich für die Kooperationen mit Russland und den USA beobachten. Es ist also keineswegs so, dass sich ukrainische Wissenschaftler*innen nach 2013 wieder stärker russischen Kooperationspartner*innen zugewandt hätten. Vielmehr haben sie verstärkt auf inner-ukrainische Kooperationen gesetzt und weniger auf internationale. Der Anteil an Publikationen, an denen ausschließlich ukrainische Wissenschaftler*innen beteiligt waren, stieg von knapp 55% im Jahre 2012 auf über 78% im Jahr 2020. In absoluten Zahlen hat sich diese Teilmenge der Publikationen fast verfünffacht, während sich die Zahl der Publikationen in Kooperationen mit Organisationen aus der EU nur verdreifacht hat. Über die Gründe für dieses Phänomen lässt sich im Moment wenig sagen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass ukrainische Wissenschaftler*innen seit 2013/2014 weniger mobil geworden und daher internationale Kooperationen schwerer aufrecht zu halten sind. Außerdem könnte ein zunehmender Brain-Drain aus der Ukraine eine Rolle spielen. Dagegen spricht allerdings, dass der wissenschaftliche Output des Landes weiter zunimmt.
Noch ist es zu früh, die Auswirkungen des Krieges auf die Situation der Wissenschaft in der Ukraine abschätzen zu können. Daher bezieht sich diese kurze Analyse auf den Status vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Wir werden die Situation sicherlich noch einmal betrachten… bleiben Sie also neugierig und datengetrieben.