Flutkatastrophe am Fraunhofer INT

Am Donnerstag, den 15. Juli 2021 um 5.53 Uhr werden die folgenden Bilder in die Fraunhofer INT-Mitarbeitenden-Gruppe in Microsoft Teams geschickt. „Hallo zusammen, das INT ist komplett überflutet, Labore und Neubau im Erdgeschoss 50-70 cm, Keller komplett, Altbau Erdgeschoss ca. 10-20 cm. Strom seit Mitternacht weg“, lautet die zugehörige Nachricht eines Mitarbeiters des Fraunhofer INT. Als das Hochwasser in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag das Institut erreicht, sind er und noch weitere Mitarbeitende zur Überwachung eines Experiments anwesend. Sie können sich glücklicherweise in das erste Obergeschoss retten. Dort müssen sie bis zum nächsten Morgen ausharren, bis sie das Institut wieder verlassen können. Die Mitarbeitenden, die nicht selbst betroffen sind, merken teilweise erst, dass etwas nicht stimmt, als sie am Morgen aus dem Corona-bedingten Home-Office erfolglos versuchen, auf ihre E-Mails, das Intranet oder die Fraunhofer INT-Website zuzugreifen. Bis klar wird, was eigentlich passiert ist, vergehen noch Stunden, bis das ganze Ausmaß erfasst ist, Wochen und Monate.

Unwetterkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz

Mitte Juli 2021 erschütterte eine schwere Unwetterkatastrophe Nordrhein-Westfalen und Teile von Rheinland-Pfalz. Schwere Unwetter am 14. Juli 2021 sorgten für weitreichende Überschwemmungen unter anderem in Euskirchen und damit auch auf dem Gelände des Fraunhofer INT. Das gesamte Institutsgelände wurde überflutet. Die Wucht der Flutwelle war so gewaltig, dass in verschiedenen Bereichen der Baukörper unterspült und aufgeschwemmt wurde. Die gesamten Gebäude lagen zeitweise bis zu 86 cm unter Wasser, der Kellerbereich wurde komplett überflutet.

Akute Aufräumarbeiten

Am 16. Juli war das Wasser so weit abgeflossen, dass erste Sichtungen vorgenommen und erste Aufräumarbeiten durch die Mitarbeitenden des Instituts eingeleitet werden konnten. Bahnstrecken und Straßen waren allerdings so schwer geschädigt, dass Euskirchen nur sehr eingeschränkt zu erreichen war. Mitarbeitenden von außerhalb wurde empfohlen, zuhause zu bleiben und nicht zu versuchen ins Institut zu kommen. In den ersten Tagen nach der Überflutung waren die Aufräumarbeiten dadurch bestimmt Schlamm, Wasser sowie irreparabel geschädigte Möbel, Teppiche, Bücher und sonstige Gegenstände aus den Gebäuden zu entfernen und experimentelle Geräte und IT-Equipment in die oberen Stockwerke zu transportieren.

Problematisch war vor allem auch die interne Kommunikation zwischen den einzelnen Mitarbeitenden des Instituts. Die Kommunikation konnte zunächst nur über Microsoft Teams und eine neu eingerichtete Signal Gruppe stattfinden. Allerdings hatten zahlreiche Mitarbeitende auch zu diesen Kanälen keinen Zugang. Einige waren selbst von Überschwemmungen betroffen und hatten daher zuhause keinen Zugriff mehr auf Computer oder Internet. Zusätzlich waren die Kernstadt in Euskirchen sowie einige umliegende Ortsteile mehrere Tage, teilweise sogar Wochen ohne Strom, Telefon und Mobilfunk, auch der Notruf war zeitweise nicht erreichbar. Erst ca. eine Woche nach der Überflutung stand fest, dass glücklicherweise alle Mitarbeitenden des Fraunhofer INT zumindest körperlich unversehrt waren. Vor Ort wurde außerdem umgehend ein Krisenstab eingerichtet, um die Lage schnellmöglich zu analysieren, das weitere Vorgehen abzustimmen und Schritte zur Beseitigung der Schäden einzuleiten.

Schäden

Nach den ersten grundlegenden Aufräumarbeiten zeigten sich nun umso mehr die Schäden, die das Hochwasser an Gebäuden, Inventar, experimentellen Geräten und Laborumgebungen angerichtet hat. Die Infrastruktur und damit die Arbeitsgrundlage der experimentellen Abteilung des Fraunhofer INT wurde grundlegend geschädigt. Da der Keller komplett überschwemmt wurde, wurden die dort untergebrachten experimentellen Geräte irreparabel zerstört. Hinter der großen Hochwasserkatastrophe stecken jedoch auch zahlreiche Einzelgeschichten und spezifische Verluste, die im kollektiven Schaden untergehen.

Raphael Wolf, Mitarbeiter in der experimentellen Abteilung des Instituts, erzählt von seinen Erfahrungen zum Lasersystem am Fraunhofer INT: »Ich habe den Laser das erste Mal 2012 gesehen. Meine Aufgabe war es, aus diesem Laser und diversen optischen Bauelementen ein einzigartiges Lasersystem aufzubauen; ein System zur Untersuchung von strahlungsinduzierten Einzelteilcheneffekten in Halbleiterbauelementen. Im Jahr 2013 konnten wir mit der ersten Version des Systems erste Tests an Bauteilen absolvieren. Nach umfangreichen Umbauarbeiten waren wir dann in der Lage, Tests an elektronischen Bauteilen durchzuführen, welche in dieser Art und Weise in Deutschland bis dahin nicht möglich waren. 2019 haben wir einen neuen Laser beschafft und in das System integriert. Das bedeutete aber auch wieder umfangreiche Anpassungsarbeiten. Es gab eine Menge Rückschläge, ich musste sehr oft Aufbauten abbauen, umdenken und wieder neuaufbauen, optische Bauteile unzählbar oft neu justieren, Strahlengänge neu vermessen und einstellen, neue Software schreiben – diese Aufzählung könnte ewig so weitergehen. Alles in allem wurden in dieses Projekt sehr viel Zeit, Arbeit und Nerven investiert. Allerdings waren all die Mühen es wert; am Ende stand ein System in unserem Keller, das es so in dieser Form nur am Fraunhofer INT gab und ich war maßgeblich daran beteiligt. Den Laserraum nach der Flut zu sehen, nach der ganzen Zeit, die ich darin verbracht habe, war sehr schwierig für mich. Das komplette Lasersystem wurde durch das Hochwasser vollständig zerstört und ist auch nicht mehr zu reparieren. Durch die Flut ist also meine ganze Arbeit der letzten Jahre einfach weg und lässt sich auch kurzfristig nicht einfach wiederaufbauen oder durch Geld wiederbeschaffen.«

Das ist nur einer von vielen Einzelfällen, der zeigt, wie individuell und auch emotional aufgeladen die Verluste in Folge einer solchen Katastrophe sein können.

Erste Erfolge

Ein erster großer Erfolg eine Woche nach der Überflutung war die Inbetriebnahme eines vorübergehenden Not-Rechenzentrums am Fraunhofer FKIE in Wachtberg. Dadurch konnten die Mitarbeitenden wieder auf das VPN, das Instituts-Netz und weitere notwendige Services für ihre Arbeit zugreifen. Glücklicherweise konnten große Teile des IT-Equipments und der gesamte Datenbestand verlustfrei sichergestellt werden. Ab diesem Zeitpunkt waren die Mitarbeitenden des Fraunhofer INT aus dem Home-Office weitestgehend wieder arbeitsfähig, soweit sie nicht auf experimentelle Geräte und Infrastrukturen vor Ort angewiesen oder selbst durch die Flutkatastrophe betroffen waren. Trotzdem fehlte in den letzten Monaten auch dort massiv der direkte, persönliche Austausch, nicht nur zum gemeinsamen Arbeiten, sondern auch, um die Krise gemeinsam zu verarbeiten.

 

Wiederaufbau

Nachdem die Akutphase der Aufräumarbeiten abgeschlossen war, wurde über mehrere Wochen hinweg zusammen mit einem Architekturbüro ein Wiederaufbaukonzept für das Fraunhofer INT erarbeitet. In großen Teilen des Neubaus, unter anderem dem Labortrakt und den Büroräumen, wurden zunächst der Trockenbau, die Böden und der Estrich entfernt. Der Wiederaufbau dieser Bereiche ist im Laufe der Jahre 2022 und 2023 geplant. Große Teile des Instituts wurden für diese Bauarbeiten abgesperrt und durften nicht betreten werden. Im Rahmen der Wiederaufbauprozesse der experimentellen Infrastruktur wurde ein Teil der experimentellen Geräte überprüft, rekalibriert und wieder in Betrieb genommen. Teilweise müssen Gerätschaften jedoch auch neu beschafft werden. Auch die IT-Infrastruktur am Institut wurde über die letzten Monate des Jahres 2021 hinweg schrittweise wiederaufgebaut.

 

Containerdorf und Außenstelle Schillingstraße

Um Ersatzstrukturen für die experimentelle Abteilung und die praktischen Bereiche wie die elektronische und mechanische Werkstatt zu schaffen, wurde auf einem der Parkplätze des Instituts ein Containerdorf aufgebaut. Knapp 40 Büro- und Laborcontainer wurden am 17. September 2021 offiziell in Betrieb genommen und anschließend entsprechend eingerichtet. Um zusätzlich den Mitarbeitenden, die bis dato nahezu ausschließlich aus dem Home-Office gearbeitet haben, Büroarbeitsplätze und Meetingräume bereitzustellen, wurden außerdem Räumlichkeiten in Euskirchen angemietet. Knapp ein halbes Jahr nach der Flut konnte die Außenstelle in der Schillingstraße 1a in Euskirchen nach Renovierung und Einrichtung mit Möbeln und IT-Infrastruktur in Betrieb genommen werden. Dort stehen den Mitarbeitenden nun ca. 30 Arbeitsplätze zur Verfügung.

Blick in die Zukunft

Ein Jahr nach dem Hochwasser war am Fraunhofer INT zum Ende des Jahres 2021 noch immer viel in Bewegung. Die Mitarbeitenden aus den nicht-experimentellen Bereichen des Instituts können aus dem Home-Office überwiegend normal arbeiten. Allerdings darf auch hier nicht außer Acht gelassen werden, dass einzelne Mitarbeitende oder deren Angehörige privat von der Umweltkatastrophe betroffen sind, was wiederum auch Auswirkungen auf die Arbeitssituation hat. Nach nunmehr zwei Jahren Pandemie sind viele Mitarbeitende der Isolation im Home-Office müde und wünschen sich wieder mehr Austausch und Begegnungen mit den Kolleg*innen. Umso positiver ist es, dass durch die Eröffnung der Schillingstraße im Dezember nun wieder Büroräume und damit Begegnungsmöglichkeiten für die Mitarbeitenden zur Verfügung stehen.

Die experimentellen und praktischen Bereiche des Instituts standen auch zum Ende des Jahres noch zwischen Wiederaufbau und wiederaufgenommener Projektarbeit. Obwohl sich die experimentelle Infrastruktur und die Geräte teilweise noch im Wiederherstellungsprozess oder in der Wiederbeschaffung befanden, konnten die einzelnen Geschäftsfelder für die kurze Zeitspanne seit dem Hochwasser ihre Arbeit bereits in beachtlichem Maße wieder aufnehmen.

Mit einigem Abstand zu den Geschehnissen zeigt sich, dass die Katastrophe gleichzeitig auch eine große Chance bietet. Die Chance, nicht nur Schäden zu beseitigen, sondern das Institut besser als zuvor, mit neuen Möglichkeiten wiederaufzubauen. Auch wenn die Vielzahl dessen, was dem Institut hin zu einem Normalzustand noch bevorsteht, einen an manchen Tagen zu überwältigen droht, ist es genauso wichtig, zurückzublicken und zu sehen, was das Fraunhofer INT seit dem 15. Juli 2021 (und auch darüber hinaus) bereits durch motivierte Mitarbeitende mit beachtlichem Durchhaltevermögen und ein Netzwerk an verlässlichen Partner*innen alles erreicht hat. Und mit dieser Gewissheit geht das Fraunhofer INT auch die weiteren Schritte des Wiederaufbaus an.

An dieser Stelle möchten wir uns außerdem nochmal herzlich bei allen Partner*innen, Fraunhofer-Einrichtungen, Freund*innen und sonstigen Unterstützer*innen bedanken, die uns sowohl in der akuten Krisensituation als auch während der noch andauernden Wiederaufbauphase unterstützt haben und dies auch noch weiter tun. Einen besonderen Dank richten wir an das Bundeswehr Dienstleistungszentrum Bonn, das Informationstechnikbataillon 282 Kastellaun und die Abteilung C3 der Fraunhofer Zentrale.